09.05.2020

Das österreichische Fernsehen, ORF, hat folgende Nachricht verbreitet:

Wie in Österreich das Virus verbreitet wurde

Rund 3.800 der derzeit etwa 15.600 Infektionsfälle mit dem Coronavirus in Österreich hat die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) untersucht und damit insgesamt 169 Cluster, also zusammenhängende Infektionen, ausfindig gemacht.
Rund 35 Prozent aller Cluster und 30 Prozent aller Fälle sind dabei dem Bereich von Senioren- und Pflegeheimen zuzuordnen.
Übertragungen in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Geschäften wurden in den untersuchten Fällen nicht nachgewiesen.

Die AGES definierte fünf Clustertypen, die durch die Quelle der Erstinfektion bestimmt wird. Gerade zu Beginn der Epidemie habe der „Import“ der Infektion die wichtigste Rolle gespielt, erklärte Daniela Schmid, Leiterin der Abteilung Surveillance und Infektionsepidemiologie der AGES am Mittwoch bei einer Pressekonferenz mit Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne).

Dazu zählen Reisen ins Ausland, von Individuen und Reisegruppen sowie der Kontakt zu ausländischen Touristen in Österreich. Danach habe sich das Virus lokal, vor allem im halböffentlichen Bereich, verbreitet, ab Mitte März konnten die meisten Fälle dieser Kategorie zugeordnet werden. Ab 23. März wurde kein aus dem Ausland importierter Covid-19-Fall verzeichnet.

Unterschiedliche Settings der Verbreitung

Die AGES unterschied zudem elf verschiedene Settings bei der Verbreitung: Dazu zählen Freizeitaktivitäten, der Arbeitsplatz, Haushalt und Familie, Krankenhäuser sowie Senioren- und Pflegeheime – und Mischformen und Kombinationen davon. Die Cluster wurden je nach Art der dominanten Art der Übertragung diesen Settings zugeordnet.

Nur drei Cluster, die allerdings gleich mehr als 1.000 Infektionsfälle umfassen, wurden dem Setting Freizeitaktivität und Haushalt zugeordnet. Dazu zählen wohl Cluster, die in den Tiroler Wintersportorten ihren Ausgang nahmen, mit denen die Infektionen in viele andere Orte verteilt wurden, wo sich dann vor allem Familienmitglieder ansteckten.

Keine Schulcluster,
keine Ansteckung in „Öffis“

20 Cluster mit 370 Erkrankten ließen sich rein auf Freizeitaktivitäten wie der Mitgliedschaft in Chor- und Musikvereinen oder dem Besuch von Fitnessstudios zuordnen, so Schmid. Die auf Haushalte und Familien beschränkten Cluster sind zwar vergleichsweise häufig, aber dafür klein: Die 40 entsprechen fast einem Viertel der Cluster, betroffen waren hier allerdings nur 280 Personen, also rund sieben Prozent der analysierten Fälle.
Kein einziger Cluster konnte dagegen Schulen – auch vor den Schulschließungen – zugeordnet werden. Überhaupt seien signifikant wenige betroffene Kinder, so Schmid. Wenn, dann seien sie Teil von Haushaltclustern, wobei allerdings in Familien kein einziges Mal ein Kind als Infektionsquelle vorgekommen sei. Auch im Bereich des öffentlichen Verkehrs und in Geschäften seien keine Ansteckungen nachgewiesen werden. „Flüchtige Begegnungen“ würden für eine Übertragung des Virus nicht ausreichen, hielt Schmid fest.

Allerdings sind solche Ansteckungen auch schwer aufzuspüren: Die Cluster werden in fast detektivischer Kleinarbeit von den lokalen Gesundheitsbehörden aufgespürt: Infizierte werden genau nach Alltag und Kontakten in den zwei Wochen vor der positiven Testung befragt.

Rund ein Drittel der Fälle in Seniorenheimen

In insgesamt 35,5 Prozent der Fälle verbreitete sich die Erkrankung im Setting Senioren- oder Pflegeheim, betroffen waren Heimbewohner, Pflegepersonal und Folgeerkrankungen im Haushalt der Primärerkrankten. Insgesamt sah Anschober die heimischen Heime aber frühzeitig und im Vergleich zur internationalen Dimension gut geschützt: „Es ist ganz gut gelungen, die ältere Bevölkerung in den Heimen zu schützen.“

Er verwies darauf, dass in den meisten Ländern zwischen einem Drittel und 60 Prozent aller Sterbefälle in Verbindung mit dem Coronavirus in Heimen zu finden waren. Hierzulande hätten sich laut Statistik Austria die Todesfälle in Pensionisten- und Pflegeeinrichtungen im ersten Quartal 2020 nicht signifikant gegenüber dem Vergleichszeitraum geändert, so Anschober.

Er verwies darauf, dass beschlossen worden sei, in einem breiten Screening alle Heimbewohnerinnen und Heimbewohner sowie auch das Personal zu testen. 24.000 Tests seien bereits durchgeführt worden, in Tirol sei das bereits abgeschlossen. Ö1 berichtet allerdings es gebe große regionale Unterschiede: Die Steiermark habe mit den Tests noch gar nicht begonnen..

Neue Cluster schnell identifizieren

Anschober nannte die Clusteranalyse „eine extrem wichtige Hilfe, dass es keine zweite Welle an Infektionen gibt“. Schmid wiederum verwies darauf, dass man beim derzeitigen niedrigen Niveau an Neuerkrankungen die Chance habe, schnell „Kleinhäufungen“ und Hotspots zu identifizieren, die richtigen Maßnahmen zu setzen und die Ansteckungsketten abzuschneiden. Gab es am Anfang nur passive Fallsuche, indem man Verdachtsfälle testete, die sich meldeten, könne man nun aktiv vorgehen und Kontakte von Erkrankten testen. Im Idealfall könnte man die Transmissionsketten dreigliedrig, also ganz kurz, halten, indem man die Quelle der infizierten Person ausmacht und rasch weitere Kontakte abtestet.

Hier der Bericht der untersuchenden Stelle, worauf der ORF-Bericht fusst:

Epidemiologische Abklärung am Beispiel COVID-19

Bei der epidemiologischen Abklärung geht es darum, darzustellen, wie sich ein Krankheitsausbruch innerhalb der Bevölkerung verbreitet: Dafür versucht man, Quellen der Infektion bzw. Übertragungsketten der Fälle durch persönliche Befragungen von erkrankten bzw. positiv getesteten Personen (= Fällen) zu identifizieren.

Wenn man weiß, wie sich die Krankheit in der Bevölkerung verbreitet, können Maßnahmen gesetzt werden, die am wahrscheinlichsten dazu beitragen, die Verbreitung einzudämmen oder zu verlangsamen.

Beispiel Cluster A

Häufungen von Fällen innerhalb eines bestimmten Zeitraums in einer bestimmten Region werden als Cluster bezeichnet. Sie werden beim COVID-19-Ausbruch nach den Buchstaben des Alphabets geordnet, Cluster A ist somit der erste Cluster, der in Österreich aufgetreten ist.

In der Abklärung werden die Fälle eines Clusters einander zugeordnet: Man bildet so genannte Transmissionsketten, die zeigen, wie die Verbreitung zwischen den Fällen vor sich gegangen ist. Im Unterschied zur Fall-Definition wird dafür nicht das Datum der Labor-Diagnose herangezogen, sondern das Datum des Erkrankungsbeginns („onset of symptoms“), das sich durch die genaue Befragung der Person ergibt: meistens zeigt eine infizierte Person Symptome, bevor ein Labor-Test gemacht wird.

Grafisch dargestellt ergibt sich ein Bild ähnlich eines Baumes, bei dem vom Stamm ausgehende verschiedene Äste abzweigen:

Die Abteilung Infektionsepidemiologie & Surveillance der AGES führt im Rahmen der epidemiologischen Aufklärung des COVID-19-Ausbruchs in Österreich auch die Quellensuche zur Auffindung von Transmissionsketten durch. Beim Cluster A konnte der erste Fall (Primärfall) eindeutig mit einer Reisetätigkeit nach Italien in Verbindung gesetzt werden. Die große Aufgabe in der Abklärung besteht darin, unter einer bestimmten Zahl an Menschen, die alle untereinander Kontakt hatten, herauszufinden, wer Quelle ist und wer Folgefall. Wenn ein Folgefall wiederum eine weitere Person infiziert, ergibt sich daraus eine neue so genannte Fallgeneration. In weiterer Folge konnte gezeigt werden, dass dieser Primärfall beim Cluster A eine lokale Transmissionskette in Gang gesetzt hat, in der es mittlerweile sechs Fallgenerationen gibt.

Der Primärfall im Cluster A kam mit Symptomen einer Verkühlung aus Italien zurück. Vier Tage nach der Rückkehr wurde er getestet, das Ergebnis lag binnen 24 Stunden vor: SARS-CoV-2-positiv. Der Betroffene kam in Quarantäne. In diesen vier Tagen hatte dieser Primärfall allerdings soziale Kontakte. Die Kontaktpersonen wurden ebenfalls getestet. Es zeigte sich, dass einige von ihnen ebenfalls positiv waren (Folgegeneration) und wiederum andere Personen infiziert hatten ( Folgegeneration) usw. bis hin zur 6. Folgegeneration (siehe Grafik: Je größer der Punkt, desto mehr Übertragungen)

Aus dieser Abklärung lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ableiten, die durch die Abklärung anderer Cluster bestätigt werden:

  • Infizierte sind oft bereits kontagiös (d. h. sie können das Virus übertragen), bevor sie selbst merken, dass sie Symptome haben
  • Die Übertragung auf andere Menschen erfolgt meist binnen weniger Tage (3 bis 5 Tage). Dieses kurze Zeitintervall macht die Kontaktpersonen-Erhebung zu einem Wettlauf mit der Zeit
  • Eine Übertragung erfolgt, wenn mehrere Menschen für längere Zeit (kumulativ 15 Minuten, z. B. 1 x 15 Minuten oder 3 x 5 Minuten) am selben Ort sind (z. B. gemeinsamer Sport, gemeinsames Singen, Seminare, Vereinstreffen, Begräbnisse…)
  • Für die meisten Cluster lassen sich so genannte „Punktexpositionen“ festmachen – eine Person steht am Beginn der Kette, hat sie längeren Kontakt mit anderen Personen, kommt es zu weiteren Übertragungen.
  • Quarantänemaßnahmen und Barrieren zeigen Wirkung: Rechtzeitig erkannt, endet die Übertragung
  • Derzeit gibt es keine Transmissionsketten, die eine Übertragung durch öffentlichen Verkehr oder Besuch eines Geschäfts belegen.

Mit fortschreitender Epidemie werden Transmissionsketten kürzer: Das Bewusstsein innerhalb der Bevölkerung über Symptome und Risikogebiete wächst, dadurch nehmen die Menschen bei Verdacht schneller Kontakt mit Ärzten und Gesundheitsbehörden auf. In der Folge können Containment-Maßnahmen wie z. B. Quarantäne, Abstandsregeln, mechanische Barrieren schneller umgesetzt werden – die Transmissionskette wird unterbrochen.

https://www.ages.at/en/wissen-aktuell/publikationen/beispiel-clusteranalyse-cluster-a/

Serielles Intervall, Reproduktionszahl

Durch den Vergleich mehrerer Transmissionsketten werden bestimmte statistische Daten gewonnen, mit denen sich der Verlauf einer Epidemie darstellen lässt:

Das so genannte Serielle Intervall beschreibt den Zeitraum zwischen der Erkrankung eines Falles und der Erkrankung seines Folgefalles. Dabei gilt es Fälle mit Kontakten, die eine Virusübertragung ermöglichen (Tröpfchenkontakt), auf Basis ihres Erkrankungsbeginns plausibel in eine Infektionskette zusammenzuführen. Dadurch ergeben sich Ketten von Quellenfall-Folgefall Paaren. Je kürzer das serielle Intervall ist, desto rascher entstehen neue Fallgenerationen. Derzeit beträgt das serielle Intervall in Österreich im Mittel 4,5 Tage.

https://www.ages.at/en/wissen-aktuell/publikationen/schaetzung-des-seriellen-intervalles-von-covid19-oesterreich/

Das serielle Intervall wird für die statistische Berechnung der Reproduktionszahl herangezogen. Diese schätzt die durchschnittliche Zahl der Fälle, die von einer infizierten Person ausgehen. Liegt die Zahl über 1, nimmt die Zahl der Infektionen kontinuierlich zu, liegt sie unter 1, geht die Zahl der Infektionen zurück.

https://www.ages.at/en/wissen-aktuell/publikationen/epidemiologische-parameter-des-covid19-ausbruchs-oesterreich-2020/

Entwicklung in Österreich

Eine epidemiologische Abklärung ist nicht statisch: Die Zahl der abgeklärten Fälle und ihre Zuordnung zu Clustern ändern sich mit dem Fortschreiten der epidemiologischen Abklärung. Für die Zuordnung zu einem Cluster wird jenes Setting gewählt, in dem die meisten Übertragungen innerhalb der jeweiligen Fallhäufung erfolgten.

Clusterfälle3.822
Cluster169
Cluster-Typen5
Cluster-Settings11


Mit 05.05. konnten 3.822 COVID-19-Fälle einem von 169 ermittelten Clustern zugeordnet werden (siehe Tabelle 1). Die Cluster werden derzeit in 5 Cluster-Typen eingeteilt. In jedem Cluster-Typ gibt es so genannte Cluster-Settings: Das bedeutet, dass die Mehrzahl der Infektionen (= Clusterfall) auf bestimmte Settings, z. B. Freizeitaktivität, Familie, Arbeitsplatz oder Altenheim zurückgeführt werden können. Es gib aber auch Settings mit mehreren Ansteckungsorten. Beim Cluster-Typ „lokale Häufung“ (insgesamt 128 Cluster) beispielsweise sind 15 Cluster ausschließlich auf Freizeitaktivitäten sowie zwei Cluster auf Freizeitaktivität und Haushalt bzw. ein Cluster auf Freizeitaktivität und Senioren-/Alten-/Pflegeheim zurückzuführen.

Cluster-SettingCluster AnzahlCluster Anteil %Clusterfälle AnzahlClusterfälle Anteil %
Senioren-/Alten-/Pflegeheimc6035,5 %1.12729,5 %
Freizeitaktivität und Haushalta,b31,8 %1.07528,1 %
Haushalt und Arbeitsplatza,b42,4 %46012,0 %
Freizeitaktivität2011,8 %3709,7 %
Haushaltb4023,7 %2807,3 %
Freizeitaktivität und Senioren-/Alten-/Pflegeheima,c21,2 %1995,2 %
Krankenhausd137,7 %1493,9 %
Arbeitsplatz158,9 %922,4 %
Reisegruppen-Häufung105,9 %431,1 %
Freizeitaktivität und Haushalt und Arbeitsplatza,b10,6 %250,7 %
Freizeitaktivität und Arbeitsplatza10,6 %20,1 %
Total1693.822

a Es gibt auch Cluster mit mehr als einem relevanten Setting der Übertragung
b Setting „Haushalt“ inkludiert Haushalt, Familie und Freunde
c Setting „Senioren-/Alten-/Pflegeheim“ beinhaltet Heimbewohner (n = 781), Pflegepersonal und Folgefälle im Haushalt
d Setting „Krankenhaus“ beinhaltet hauptsächlich Krankenhaus-Personal

Cluster-Typ und -SettingAnzahl
Reisegruppen-Häufung10
Reisegruppen-Häufung10
Reisegruppen-Häufung und lokale Verbreitung6
Haushalt3
Senioren-/Alten-/Pflegeheim2
Freizeitaktivität und Haushalt und Arbeitsplatz1
Reise-assoziiert und lokale Verbreitung19
Freizeitaktivität4
Arbeitsplatz3
Haushalt7
Krankenhaus2
Senioren-/Alten-/Pflegeheim1
Freizeitaktivität und Arbeitsplatz1
Freizeitaktivität und Senioren-/Alten-/Pflegeheim1
Kontakt zu ausländischem Touristen und lokale Verbreitung6
Freizeitaktivität1
Arbeitsplatz3
Haushalt1
Freizeitaktivität und Haushalt1
lokale Häufung128
Freizeitaktivität15
Arbeitsplatz9
Haushalt29
Krankenhaus11
Senioren-/Alten-/Pflegeheim57
Freizeitaktivität und Haushalt2
Freizeitaktivität und Senioren-/Alten-/Pflegeheim1
Haushalt und Arbeitsplatz4
Total169